Krieg verschärft Lieferkrise: „Supply Chain Pressure Index“ zeigt Rekordwert

Rohstoffe fehlen, Energie wird teuer und die Transportbranche warnt vor einem Fahrermangel mit ungeahnten Folgen: So trifft der Krieg in der Ukraine schon jetzt die deutsche Wirtschaft.

| Lesedauer: 5min.

Die Fassungslosigkeit über die Angriffe und das menschliche Leid ist vielen ins Gesicht geschrieben, wenn sie über die Lage in der Ukraine reden. Doch die Sorge um die wirtschaftliche Zukunft ist für viele Unternehmen gleichermaßen konkret. 4 von 5 Unternehmen verzeichnen seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine zusätzliche Störungen der Lieferkette. Das ist das Ergebnis einer Blitzumfrage des Deutsche Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Insgesamt sehen sich 78 Prozent der Betriebe vom Krieg und seinen Auswirkungen geschäftlich betroffen: 60 nennen steigende Preise oder gestörten Lieferketten als Herausforderung, 18 Prozent müssen sich mit direkten Folgen wie dem Verlust von Kunden oder Lieferanten auseinandersetzen. Keine Auswirkungen bemerkten nach der Umfrage bisher 22 Prozent. Diese Verschärfung trifft die Unternehmen in einer ohnehin schwierigen Situation. Schon zu Jahresbeginn hatten 84% der deutschen Industriebetriebe in der bundesweiten IHK-Konjunkturumfrage mittlere bis erhebliche Lieferschwierigkeiten gemeldet.

Unternehmen von zwei Seiten unter Druck

Damit stehen die Unternehmen von zwei Seiten unter Druck. Sie bekommen selbst nur schwer Rohstoffe und Vorprodukte und müssen zu deutlich erhöhten Preisen einkaufen. Gleichzeitig könnten sie die Kostensteigerungen nur teilweise an ihre Kunden weitergeben oder selbst wegen der Verzögerungen nur schlecht liefern, teilte DIHK-Vizepräsident Ralf Stoffels mit. Er betonte allerdings auch: „Selbst unter den Unternehmen, die erhebliche finanzielle Einbrüche durch die gegen Russland verhängten Sanktionen verzeichnen, ist der Rückhalt für die harten Maßnahmen groß. Es ist für viele einfach unerträglich, in einem Land Geschäfte zu machen, von dessen Boden ein solcher Angriffskrieg ausgeht."

„Lieferketten-Druck-Index“ auf Höchststand

Wie außergewöhnlich die Lage ist, verdeutlich der „Global Supply Chain Pressure Index“. Die von der Federal Reserve Bank of New York vorgelegte Übersicht, welchem Druck die globalen Lieferketten standhalten müssen, zeigte - bedingt durch die Corona-Lockdowns - bereits seit Monaten ein hohes Niveau. Nach dem Angriff auf die Ukraine hat der Index, der den Lieferkettendruck seit 1997 verzeichnet, den bisher höchsten gemessenen Wert erreicht.

Nach dem S&P Global Market Intelligence Index gehören Deutschland, Ungarn, Dänemark, Finnland und Irland zu den Ländern in Europa, die von Engpässen wegen ausbleibender Lieferungen aus Russland und der Ukraine am meisten betroffen sind. Besondere Auswirkungen habe die Entwicklung auf energieabhängige Sektoren, Verkehrsdienstleistungen, Grundmetalle und chemische Industrie, aber auch auf das Baugewerbe, sowie Maschinen- und Anlagenbau, Halbleiterindustrie und den Automobilsektor. So stehen bei Volkswagen in einigen Werken die Bänder still, unter anderem, weil wichtige Kabelbäume aus der Ukraine nicht geliefert werden können.

Fahrermangel: Deutliche Verschärfung droht

Doch nicht nur Rohstoffe und Güter fehlen. Der Krieg in der Ukraine könnte nach Ansicht der Europäische Ladungs-Verbund Internationaler Spediteure AG (ELVIS) und des Mittelstandsverbands Mittelstand.BVMW den Fahrermangel in einem Ausmaß verschärfen, „dem viele Lieferketten nicht standhalten werden“. Weite Teile des Lkw-Verkehrs in Deutschland wickeln laut Mauterhebungen osteuropäische Transportflotten ab. Zwar erfasst das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) die Leistung ukrainischer Fahrer nicht gesondert. Allerdings ist bekannt, dass viele Fahrer, die in Polen beschäftigt sind, aus der Ukraine stammen. Der Anteil der Fahrleistung polnischer Lkw in Deutschland umfasst nach BAG-Angaben 17,5 Prozent. Damit ist die Hälfte der Transporte betroffen, die von ausländischen Unternehmen in Deutschland übernommen werden. Klaus Meyer, Vorsitzender der Fachkommission Logistik und Mobilität im BVMW, rechnet mit 100 000 ukrainischen Fahrern, die sich zurzeit in Polen aufhalten. Nach seinen Befürchtungen stehen sie den Transportunternehmen schon bald nicht mehr zur Verfügung, weil sie im Rahmen der allgemeinen Mobilmachung in der Ukraine zur Landesverteidigung einberufen wurden, oder weil sie ihre Familien in Sicherheit bringen. „Das käme einem Aderlass gleich, der sich kaum kompensieren ließe“, betonte Meyer.

Auswirkungen auf Bahn, Schiff und Luftfracht

Nach Untersuchungen der SCM-Plattform FourKites zeichnet sich jetzt schon eine Auswirkung des Krieges auf alle Verkehrsträger ab. Der Transport von Asien per Bahn durch Russland sei nicht mehr sicher und zuverlässig, so Mark Delaney, Vice Präsident Retail Industry Strategy bei FourKites. Während die dringendsten Sendungen auf dem Luftweg transportiert würden, werde die große Mehrheit der Güter auf Schiffe verladen. „Dadurch werden die Seekapazitäten, die aufgrund der wiederholten pandemiebedingten Schocks ohnehin schon an ihre Grenzen stoßen, noch stärker belastet“, teilte Delaney mit. Nach den neuesten Daten der FourKites-Plattform haben sich die Verweilzeiten auf dem Seeweg in Europa erhöht, seit sich Truppen an der ukrainischen Grenze versammelt haben. Infolgedessen steigen die Seefrachtraten über die bereits erreichten Rekordhöhen hinaus an. „Unsere Experten rechnen mit einem Anstieg der Seefrachtraten um das 20- bis 40-fache“, erklärte Delaney.

Durch die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine verlängern sich die Flugzeiten nach Asien deutlich. Als Reaktion auf den Beschluss der Europäischen Union, den Luftraum für russische Flieger zu schließen, hat die russische Luftfahrtbehörde Rosawiazija den Luftraum über Russland für westliche Fluglinien geschlossen. Das hat zwei Folgen: In der Luftfracht fallen für europäische Unternehmen russische Fluggesellschaften komplett aus. Westliche Fluglinien müssen eine andere Route nach Asien nehmen. Das verlängert die Flugzeit um rund zwei Stunden. Weil die Flugzeuge zusätzlichen Treibstoff mitnehmen müssen, können sie nach Auskunft von Lufthansa Cargo 10% weniger Fracht transportieren.

Firmen können sich auf EU-Plattform vernetzen

Um unterbrochenen oder gestörten Lieferketten entgegenzuwirken, hat das Enterprise Europe Network (ENN) gemeinsam mit der Europäischen Union eine Supply Chain Resilience Platform eingerichtet. Auf diese Weise sollen Unternehmen, die ihre Ware nicht mehr verkaufen können, mit Unternehmen, die dringend diese Ware suchen, zusammengebracht werden. Unterstützt werden Unternehmen bei der Beschaffung von Rohstoffen, Teilen, Komponenten und/oder (Halb-)Fertigwaren oder Dienstleistungen, die sie zur Aufrechterhaltung der Produktion benötigen. Dabei konzentriert sich die Plattform auf die Sektoren Agrar- und Ernährungswirtschaft, Bauwesen, Digitales, Elektronik, Energieintensive Industrien, Gesundheit, Mobilität, Transport, Automobil, Grundstoffe, Erneuerbare Energie und Textilien.

Fazit

Breits durch Corona waren die Lieferketten angespannt, Rohstoffmangel und Staus in der Containerschifffahrt haben Handel und Industrie vor große Herausforderungen gestellt. Der Krieg in der Ukraine hat die Situation noch einmal auf eine neue Stufe gehoben. Zu der Erschütterung über das menschliche Leid und die gewaltigen Zerstörungen kommt für viele Unternehmen die Frage, wie sie sich selbst und ihre Belegschaft schützen können. Versuche, durch eine Supply Chain Resilience Platform Lieferanten und Kunden auf neuen Wegen zusammenzubringen, können nur ein kleiner Schritt sein. Viele Unternehmen versuchen so gut es geht selbst vorzusorgen, 37% haben schon während des vergangenen Jahres ihre Sicherheitsbestände erhöht. Das hat eine Studie des „Herchenbach Supply Chain Institute“ ergeben. Für dieses Jahr hatten das bereits 40% angekündigt – und zwar noch bevor der Angriff auf die Ukraine stattgefunden hat.

Diesen Artikel teilen